Überschreitung Naso del Liskamm (4272m), Balmenhorn (4167m) und Vincentpyramide (4215m).
Zwei wunderschöne und eindrückliche Tage am Berg liegen bereits hinter uns. Jana und ich verbringen eine schöne Nacht auf der Capanna Quintino Sella al Felik und schälen uns am nächsten Morgen um kurz nach vier Uhr aus den Decken. Nach einem reichhaltigen Frühstück schlüpfen wir in unsere Bergschuhe und ein paar Meter hinter der Hütte kommen auch die gezackten Freunde wieder an die Schuhe. Wir seilen an und betreten den westlichen Lisgletscher. Schon nach ein paar Metern verzweigen sich die Routen, für die Liskamm-Überschreitung halten sich ein paar Alpinisten linker Hand, um wieder in Richtung Felikjoch aufzusteigen – wir wenden uns nach rechts in Richtung Gletscherbecken.

Knapp hinter der Dreierseilschaft von Andi, einem Bergführer aus dem Engadin, und seinen zwei Gästen machen wir uns auf den Weg in Richtung Naso del Liskamm. Dieser Viertausender ist streng genommen kein eigener Gipfel nach UIAA-Definition, da die Schartenhöhe weniger als 30m beträgt. Viel mehr ist dieser Gipfel eine Erhebung im Südgrat auf den Liskamm-Ostgipfel. Ob ein eigenständiger offizieller Viertausender oder nicht – heute müssen wir in jedem Fall oben drüber. Diese Route ist auch die Ausweichroute, sollten schlechte Bedingungen auf der Liskamm-Überschreitung herrschen. Heute machen wir uns ein Bild und werden den Liskamm aus allen Winkeln gut studieren. Auch die Liskamm-Überschreitung steht auf meiner Wunschliste – irgendwann geht diese sich mit Sicherheit auch für uns aus.


Während wir auf den Naso del Liskamm zusteuern, können wir in der Mitte des Gletscherbeckens dann auch die Route auf den Gipfel einsehen. Diese Route führt durch ein steiles Eisfeld, welches durch die westliche Exposition nicht mehr wirklich viel Schnee hat.

Auf den letzten Metern auf dem westlichen Lisgletscher verkürzen wir den Seilabstand und steigen immer steiler werdend einem Geröllfeld zu. Dort angekommen, legen wir die Steigeisen ab, da es doch 50-70 Höhenmeter sind, auf denen man durch Felsen steigen muss. Vielleicht ist es auch unser Mitleid mit dem scharfen Stahl an unseren Füßen, dass wir uns die Mühe machen, die Eisen zu demontieren. Der Klimawandel und der damit verbundene Gletscherrückgang ist hier deutlich zu spüren. Dieses Geröllfeld ist auf keiner (auch noch so aktuellen) Karte eingezeichnet! Am letzten Felsen finden wir zwei schöne Bohrhaken, welche wohl zum Standplatzbau geeignet sind. Nötig ist der Stand auch, denn die folgenden 140 Klettermeter sind in ca. 45-50° steilem Eis (nicht schwieriger als WI 1).

Glücklicherweise ist das Eis nicht ganz blank und so finden die Steigeisen mit den Front- und Seitenzacken getreten gut Halt. Ich lege eine Eisschraube am Einstieg als Dummy-Runner und schnell steige ich die erste Seillänge hoch. Hier folgt die zweite Eisschraube und dank einem Micro Traxion haben wir sogar eine Rücklaufsperre für Jana im Nachstieg eingerichtet. Somit ist sie auch unabhängig von mir gut gesichert. Ein paar neidische Blicke bekommen wir von den beiden Seilschaften neben uns, denn jetzt zahlt sich endlich das von mir mitgetragene 60m-Seil aus. Bisher war es nicht zwingend nötig, jetzt freuen wir uns darüber. Da hat sich das zusätzliche Gewicht, welches ich die meiste Zeit auf den Schultern trage, doch gelohnt. Speziell für solche Passagen und für Abseilpassagen bin ich doch recht froh über das lange Seil.

Ich hole Jana am ersten Stand nach und nach kurzer Materialübergabe steige ich die folgenden zwei Seillängen vor, wobei wir jetzt aufgrund genügend Eisschrauben und zwei Micro Traxions „fliegend“ steigen können. Durch die Steilheit und die akute Absturzgefahr, sichern wir weiter mit Eisschrauben und bringen unseren Puls so richtig nach oben. Langsam wird es dadurch wärmer in den Fingern, denn auf der schattigen Westseite ist es an diesem Morgen doch noch recht kühl. Die kleinen Schnee- und Eisduschen, welche immer wieder auf uns rieseln, sorgen für weitere Abkühlung. Nach weiteren rund 80 Metern erreichen wir den Ausstieg, wo eine Sicherungsstange das Nachsichern erleichtert. Die letzten Meter auf den Naso del Liskamm (4272m) sind unschwieriges Gehgelände, zum Ende nochmal ein paar Meter durch Felsen.

Exakt um 8:37 Uhr erblicken wir erstmalig die imposante Kulisse des Monte Rosa Plateaus als wir am Gipfel des Naso stehen. Auch wenn der Gipfel es nicht in die offizielle Viertausender-Statistik der UIAA geschafft hat, muss man sich diesen doch deutlich härter erarbeiten als so manchen offiziellen Viertausender.


Wir laufen über ein Schneefeld und gönnen uns nach dem erfolgreichen und anstrengenden Anstieg ein „z’Nüni“ in der Morgensonne. Der Kaffee ist leider etwas dünn und chemisch gesehen leider nur H2O aus unseren Isoflaschen. Trotzdem bleiben wir für ein paar Momente sitzen und essen ein paar Kleinigkeiten, welche wir aus unseren Jackentaschen holen.


Nach der Stärkung geht es über brüchige Felsen hinunter auf den östlichen Lisgletscher. Ohne Seil und ohne Steigeisen geht es in diesem Gelände wesentlich leichter voran als in voller Montur und so müssen wir beim Betreten des Gletschers ein weiteres Mal anseilen. So sehr wir auf der schattigen Seite des Naso gefroren haben, so sehr schwitzen wir jetzt in der immer kräftiger werdenden Sonne im Gletscherkessel des östlichen Lisgletschers. Wir unterschreiten hier die 4000m-Marke wieder knapp und beginnen eine lange Querung hinüber aufs Plateau.

Der Gletscher wirkt wie ein ewiges Meer aus Schnee und Eis und erscheint auf den ersten Blick recht spaltenfrei. Doch Vorsicht ist geboten, denn zum einen gilt es, von den bedrohlichen Séracs des Liskamms gebührenden Abstand zu halten und zum anderen sind die Spalten des östlichen Lisgletschers zwar gut eingeschneit, aber doch vorhanden. Wir steigen in einer schönen Linie stetig aufwärts und erreichen auf 4200m das Lisjoch. Wir steigen bis zum Einstieg in den Grat zum Ostgipfel an und schauen uns den Anstieg genau an. Dieser Gipfel wäre durch die fortgeschrittene Uhrzeit von 11 Uhr aber nicht mehr realistisch, da wir wohl erst wieder gegen 14 Uhr im Lisjoch wären. Die Ostseite wäre um diese Zeit schwer durchweicht. Mein Gedanke war aber viel mehr, den Grat zum Ostgipfel aus dieser Perspektive gut zu studieren.
Als wir uns gerade in Richtung Südosten wenden, kommt uns ein Franzose entgegen, der um 6 Uhr auf der Monte Rosa Hütte gestartet ist. In den letzten fünf Stunden hat er laut eigener Aussage alle Monte Rosa Gipfel bestiegen (inklusive 1800hm auf die Dufourspitze via Silbersattel-Route) und vom Hauptmassiv aus alle weiteren Gipfel bis zur Punta Giordani überschritten. Er hat jetzt vor, auf die Liskamm-Überschreitung zu starten und plant anschließend Castor, Pollux und die volle Breithorn-Traverse bis zum Klein Matterhorn zu gehen. Ab dem Lisjoch wäre diese Tour nach SAC-Führer noch mindestens 20 Stunden lang. Die Gefahr, spät am Nachmittag solo auf dem Gletscher unterwegs zu sein, sei nur am Rande erwähnt. Ich mache im Kopf ein großes Fragezeichen an die Realisierbarkeit, wünsche aber natürlich viel Erfolg. Mit großem Kopfschütteln ob diesem wahnsinnigen und extrem gefährlichen Plan, steigen wir wieder ein Stück abwärts und steuern auf das Balmenhorn zu.

Wir spüren nun deutlich die Mittagshitze und treffen auf mehr und mehr Seilschaften. Das Balmenhorn (4167m) ist abermals ein Viertausender – wenn auch nicht nach offizieller UIAA Definition – welchen wir über ein paar Klettermeter erreichen. Auf dem Gipfel wartet, wie bereits am Pollux, eine Madonna-Statue. Wir schießen einige Fotos mit dem grandiosen Panorama auf Liskamm und hinaus in Richtung Aostatal. Nach dem Abstieg auf den Gletscher geht es für uns im Laufschritt hinunter in den Colle Vincent und nochmals rund 150 Höhenmeter über eine Firnrampe hinauf bis auf die Vincentpyramide (4215m).




Unser dritter Viertausender des Tages ist wieder ein toller Moment – wir blicken in ein Hochnebelmeer über dem oberitalienischen Flachland und genießen in die andere Richtung einen tollen Blick in Richtung Monte Rosa Gipfel. Auf der anderen Seite der Vincentpyramide steigen wir ein paar Meter auf einem Firngrat hinab, bis wir an den Beginn des Felsgrats hinunter zur Punta Giordani kommen.

Nach einem kurzen Plausch mit einer entgegenkommenden Seilschaft, entscheiden wir uns gegen die Gratkletterei, da diese im Abstieg doch eher ungeschickt wäre und viel mehr Spaß im Aufstieg macht. Somit steigen wir zurück auf den Gipfel der Vincentpyramide und auf der anderen Seite wieder hinunter in den Colle Vincent. Von hier geht es in breiter und ausgetretener Spur hinunter zur Gnifetti-Hütte. Fast im Laufschritt steigen wir den östlichsten Ausläufer des Lisgletschers ab und auf 3700m wenden wir uns nochmals nach links. Da ich von oben eine mögliche Route auf die Punta Giordani erspäht habe, möchte ich diese Variante versuchen. Normalerweise geht man von der Bergstation der Indren-Seilbahn 800 Höhenmeter über den Ghiacciaio d’Indren unschwierig hinauf auf die Punta Giordani. Da wir uns bereits weiter oben befinden, versuchen wir über die SSW-Rippe der Vincentpyramide aufzusteigen und dann weiter oben einen Gletscherhang zum Gipfel zu traversieren. Nach einer Stunde Aufstieg über die extrem brüchige und lose Rippe, entscheiden wir uns aber, wieder umzukehren. Der Anstieg durch dieses Gelände ist extrem mühsam und als sich ein tischplattengroßer Felsen unter mir (und fast mit mir) in Richtung Tal bewegt, lassen wir es gut sein. Zu diesem Zeitpunkt haben wir bereits 9 Stunden und knapp 1300hm in den Beinen – somit ist dies die richtige Entscheidung. Über den quasi zerbröselnden Berg gehen wir ganz vorsichtig wieder hinunter auf den Gletscher und zuletzt geht es im Slalom um die Spalten herum hinüber zur Capanna Gnifetti. Hier folgt das hüttentechnische Highlight der Tour, denn die Gnifetti-Hütte verfügt doch tatsächlich über eine warme Dusche, welche man für fünf Euro benutzen kann. Normalerweise sind natürlich Duscherlebnisse aufgrund des üblichen Wassermangels auf Hütten für mich tabu, aber nach drei Tagen auf Tour drücke ich zwei Augen zu. Ich habe ein paar Bedienungsprobleme und auch Jana hat etwas Pech und so muss ich triefend nass bei der Hüttenwirtin um eine Duschzeit-Verlängerung bitten, die ich dank ein paar Brocken Italienisch auch freundlicherweise gratis bekomme. Die warme Dusche und ein Stück Kuchen mit Sahne machen alle Anstrengungen des Tages vergessen. Schon bald gibt es Abendessen und wir klettern in unsere hoch gelegenen Stockbetten (erste und zweite Etage im Lager).
Hier geht’s zu den vergangenen Artikeln zu dieser Tour:
Tag 1: Auftakt am Breithorn | Tag 2: Über Pollux und Castor
Facts zur Tour
Fazit
Die dritte Etappe unserer Tour ist nach Belieben verlängerbar – hat man doch auf dem Monte Rosa Plateau die Möglichkeit, Gipfel zu sammeln. Der Zustieg von der Capanna Quintino Sella al Felik bis zum letzten Aufschwung auf den Naso del Liskamm ist unschwierig, der letzte Hang ist je nach Vereisung heikel. Die anderen Seilschaften und auch wir haben uns fürs „Schrauben“ entschieden, das sei auch aufgrund der Absturzgefahr ausdrücklich empfohlen. Balmenhorn und Vincentpyramide sind technisch einfach und daher auch bei schlechteren Bedingungen machbar. Wer keinen Platz auf der Gnifetti-Hütte bekommt, kann auch auf dem knapp 200 Höhenmeter tiefer gelegenen Rifugio Città di Mantova übernachten. Der Anstieg auf die Punta Giordani via SSW-Rippe der Vincentpyramide ist zwar im SAC-Gebietsführer als mögliche Führe beschrieben, ich rate hier aber explizit davon ab. Wir waren hier auch die einzige Seilschaft und haben keinerlei Spuren anderer Alpinisten entdeckt.
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